Dies ist ein Artikel aus der Isaac`s Zeitung
1 / 1995. ACHTUNG! Der Inhalt ist historisch, alle Angaben entsprechen dem
Stand von 1995! Seltsamerweise
ist diese Diskussion immer noch aktuell und solche Fördermethoden werden immer noch
eingesetzt. Siehe auch Zeitschrift „Heilpädagogische Forschung“ Heft 2 2009!
Zwanzig Gründe,
weshalb eine falsche Antwort eigentlich doch richtig ist
Sollen wir in
unserer ISAAC-Zeitschrift eigentlich nur über die Fälle berichten, wo wir einem
Kind geholfen haben, zu kommunizieren? Dürfen wir auch über die Pannen und Missgeschicke
schreiben, über falsch eingeschlagene Wege? Ich denke ja, denn auch damit könnten
wir wiederum anderen Pädagogen/innen helfen, die eigene Arbeit immer wieder zu
überprüfen und zu hinterfragen.
Es passiert so leicht, dass man eine Idee weiterverfolgt, weil man ja bisher
schon so viel Zeit und Mühe investiert hat und erst ein paar Jahre später
zurückblickend erkennt, wie unsinnig es war und wie viel besser vielleicht ein
ganz anderer Weg gewesen wäre. In der Situation selbst aber fällt es jedem
schwer, die eigene emotionale Beteiligung von der nüchternen Betrachtung des
Kindes bzw. des Patienten zu trennen. Das wohl bisher bekannteste Beispiel: Vor
ein paar Monaten ging die gestützte Kommunikation bei Autisten durch Presse und
Fernsehen, bei der sich herausstellte, dass in den meisten Fällen die
schriftlichen Äußerungen der Behinderten nicht von ihnen selbst kamen, sondern
von den jeweiligen Betreuern. Es sah so aus, als ob sie den Arm des Behinderten
nur leicht stützend und angeblich nur motivierend hielten, in Wirklichkeit aber
ihn unbewusst steuerten und bewegten. Erst in einem sogenannten Blindversuch,
bei dem Autist und Betreuer getrennt Fragen gestellt bekommen, wird deutlich,
wer in Wirklichkeit antwortet.
Ich möchte über die Förderung eines geistigbehinderten , nichtsprechenden
Mädchens berichten, bei der etwas Eigenartiges passierte. Die Grundstrukturen
der emotionalen Abhängigkeit von persönlichem Einsatz und den angeblichen
Therapieresultaten waren ähnlich wie bei den Betreuern der Autisten, die ja
auch in bester Absicht gehandelt hatten und von der Richtigkeit und Objektivität
überzeugt waren.
Das Mädchen war seit etwa sieben Jahren in einer Geistigbehindertenklasse
unterrichtet und von vielen Lehrern, Therapeuten, Erziehern, usw. begutachtet
worden. Plötzlich behauptete nun eine neue Lehrerin, dass sie erheblich
umfangreichere kognitive Fähigkeiten bei dem Mädchen feststellen könne, indem
sie dem Mädchen eine Tafel mit richtigen Antworten auf ihre Fragen hinhielt und
dieses dann auf die Antworten deuten sollte. Der Unterrichtsstoff wechselte
daher folgerichtig von den lebenspraktischen Übungen der G-Klasse zu dem Stoff
einer siebten Klasse der Regelschule.
Dieser Wechsel erfolgte sprunghaft, ohne jeden methodischen Zweifel, da das
Mädchen angeblich ihren Geschwistern bei deren Hausaufgaben zugesehen und
dadurch diesen Stoff gelernt haben soll. Die Lehrerin beantwortete dann mit dem
Mädchen Lückentexte auf englisch oder französisch, ohne jedes Vokabellernen
oder die üblichen Anfänge, eine Sprache zu erlernen. Mathematik, Geometrie oder
Sachkunde waren die nächsten Fächer, die genau so atemberaubend schnell
"aufgeholt" wurden.
Mein Problem lag darin, dass ich als zuständiger Therapeut eine technische
Hilfe finden sollte, mit der das Mädchen schreiben kann. Ich organisierte also
nun alle denkbaren Geräte, bestellte Vertreter von Hilfsmittelfirmen und lieh
mir verschiedene Schalter aus, um ihr alles auf dem Markt Verfügbare
anzubieten. Obwohl das Mädchen durch kein Hilfsmittel in der Lage war, einen
Buchstaben willkürlich zu drücken und nicht einmal eine Kommunikationshilfe mit
großen Tasten oder Schaltern bedienen konnte, behauptete die Lehrerin, es läge
nur am falschen Schalter, an der Größe der Tastatur, an der Winzigkeit der
Tastatur, usw. Jedes Mal, wenn ich ein neues Gerät erfolglos ausprobiert hatte,
fand sie einen Grund, um von dem Problem abzulenken, dass das Mädchen
vermutlich nie einen Buchstaben treffen konnte, da sie gar nicht lesen kann.
Sie zeigte manchmal in spastischen Bewegungen zufällig auf das richtige Symbol
und dies wurde dann in der Klasse als großer Erfolg gefeiert.
Diese Strategie ließ uns dann ein halbes Schuljahr lang alle Hilfsmittel von A
bis Z ausprobieren und am Ende wieder von vorne anfangen. Die Argumente,
weshalb die immer wieder falsch gelösten Aufgaben eigentlich doch richtig waren
oder übergangen wurden, sind bemerkenswert. Ich habe hier eine Sammlung von
Sätzen aufgeführt, die ich wörtlich zitieren möchte, nicht, um jemanden
vorzuführen, sondern um deutlich zu machen, wie oft uns in unserer Arbeit
solche Denkmuster im Kleinen begegnen und dass niemand vor Fehlern sicher ist.
Hier handelt es sich eben nur um eine Zusammenballung von Originalzitaten, die
mir in der Arbeit allerdings einiges Kopfzerbrechen bereitet hat:
1.
Die
Frage ist zu einfach für dich, nicht wahr?
2.
Ich
glaube, dein Schuh ist offen. Ich mach` das mal richtig und dann fängst du noch
mal an.
3.
Die
Symboltafel ist zu dicht dran, ich ziehe sie mal weiter weg. (das richtige
Symbol ist auf der Tafel unten)
4.
Der
Tisch ist zu weit weg, da kommst du ja gar nicht an, ich schiebe ihn mal
dichter heran. (das richtige Symbol ist auf der Tafel oben)
5.
Setz
dich erst mal gerade hin und überleg noch mal in Ruhe.
6.
Mach
die Arme ganz lang und suche das Symbol. (das richtige Symbol ist am oberen
Ende der Tafel)
7.
Bring
die Hand da herüber und zeig auf die richtige Zahl!
8.
Ich
denke, das Niveau der Antwort ist zu niedrig für sie.
9.
Sie
zeigt jetzt falsch, aber sie hat spontan als Erstes auf die richtige Lösung
gesehen!
10.
Falsche
Antwort übergehen, einfach nichts sagen.
11.
Falsche
Antwort übergehen mit: Du hast ganz viel Zeit, lass dir Zeit!
12.
Die
Hand zeigt jetzt falsch, aber sie zeigt jetzt gerade mit dem Ellenbogen
richtig!
13.
Macht
nichts, dass das falsch war, ich wollte auch nur sehen, ob du die Taste
überhaupt erkennen kannst.
14.
Man
muss sie sehr gut kennen und ein Gefühl für die emotionalen Zwischentöne haben,
um sie zu verstehen.
15.
Sie
trifft wegen ihrer Behinderung auf der Tastatur die falschen Buchstaben, das
funktioniert nur, wenn ich ihr das Handgelenk führe.
16.
Jetzt
bist du schon so dicht am "F", da kannst du das schnell noch mal
drücken.
17.
Sie
kann die Tasten ja nicht erkennen, wenn ihre Hand dadrüber ist.
18.
Gut,
dass die Antwort jetzt falsch war, da haben wir noch etwas, was wir üben
können.
19.
Ich
glaube, du schaffst es besser, wenn die Arme am Anfang locker an der Seite
liegen - wir fangen noch mal von vorne an.
20.
Vielleicht
fehlt dir als Mann einfach die emotionale Intuition, um das Mädchen verstehen
zu können!
Wir arbeiten
natürlich noch weiter daran, für dieses Mädchen eine Lösung zu finden.
Inzwischen hat sie ein Halbjahreszeugnis erhalten, welches ihr enorme kognitive
Fähigkeiten bescheinigt und in Richtung Realschulabschluss zielt. Leider hat
sich diese Vermutung noch nicht ein einziges Mal objektiv beweisen lassen, denn
das Zeigen funktioniert immer nur bei der einen Lehrerin und nur mit der einen
Methode des Zeigens, übrigens auch eine Parallele zu den o.a.
Kommunikationsversuchen mit autistischen Menschen.
Für das Mädchen selbst ist die ganze Sache überhaupt nicht problematisch, sie
genießt natürlich die erheblich gestiegene Aufmerksamkeit, die ihr gewidmet
wird. Auch die Eltern stehen dem "neuen" Unterricht ihrer Tochter
gelassen gegenüber, sie haben schon so viele Meinungen und Ansichten zu ihrer
Tochter gehört und machen sich keine Illusionen mehr. Es wird sich also niemand
beschweren, wenn wir nie eine Möglichkeit zum Schreiben für das Mädchen finden.
Allerdings könnte es sein, dass sich das Mädchen zurückgesetzt fühlt, wenn sich
dann nicht mehr so viel um sie gekümmert wird. Für mich selbst bleibt die
Frage, ob wir die Zeit nicht besser für Fördermöglichkeiten auf ihrem
belegbaren geistigen Niveau nutzen sollten. Dazu gehört zum Beispiel, eine
Möglichkeit zu finden, wie sie sich äußern kann, wenn sie zur Toilette möchte.
Ein, wie ich finde, interessantes Fallbeispiel aus der Praxis, das sich als
Denkanstoß und Diskussionsgrundlage eignet, wofür diese Zeitung ein Medium sein
soll!
Autor:
Arvid R.
Spiekermann
xxx
xxx Kiel