Bericht über ein berichtenswertes Video Arvid Spiekermann
Abb. 1
In ihrem persönlichen Logo vereint Amanda Baggs ein deutsches Volksgesundheitsplakat aus dem 3. Reich über „unwertes Leben“, ihr Foto und ihren Finger, der auf einer Talkeroberfläche das B eingibt.
Abb. 2
Amanda liest in ihrer Wohnung auf eine übliche Art.
Abb. 3
Amanda variiert ihre Art zu lesen, sie möchte das Buch auch fühlen und riechen.
Abb. 3
Was für uns wie eine sinnlose Handlung aussieht, kann eine sinnlose Handlung sein, aber auch eine interessante Auseinandersetzung mit Wasser.
Während ihr von Außenstehenden bescheinigt wurde, keinen Kontakt aufnehmen zu können, demonstriert Amanda hier, dass sie u.a. riechen kann.
Abb. 5
Amanda mit dem Neurologen Dr. Sanjay Gupta, der als ärztlicher Berater für CNN arbeitet. Er besuchte sie und berichtete in einer Fernsehsendung über seine Erkenntnisse, wodurch sie in Amerika zu großer Bekanntheit kam.
Ein
selbst gedrehtes Video kursiert seit einer Weile im Internet und verwirrt und
erstaunt die Menschen, die es sehen. Man sieht zuerst nur eine Frau, die sich
wortlos Eigenstimulationen sucht, wie es viele Pädagogen und Therapeuten in
ähnlicher Form von ihren autistischen Patienten oder Schülern kennen. Die Frau
heißt Amanda Baggs und lebt in Burlington, Vermont (USA).
Dann
folgt eine „Übersetzung“, in der eine Computerstimme den von ihr geschriebenen
Text vorliest und die Handlungen erklärt. Und plötzlich ist alles anders, was
man sich als Betrachter vorher in die eigenen Erfahrungsschemata einsortiert
hat. Denn Amanda ist eine sehr intelligente Frau, die über ihr Leben und ihre
Probleme erstaunlich eloquent reflektieren und kommentieren kann. Und die
Dinge, die vorher für uns sinnlos erschienen, machen plötzlich nicht nur Sinn,
sie erweitern unseren Horizont sogar um völlig neue Perspektiven!
Amanda Baggs betreibt seit mehreren Jahren eine eigene Homepage, auf der sie zu gesundheitspolitischen Fragen und besonders zum Autismus Stellung bezieht. Früher unter dem Namen „sggaB The Slug“, was nebenbei eine Doppelbedeutung von Faulpelz und Geschoss hat, heute unter dem Pseudonym „Ballastexistenz“. Sie wählte diesen Begriff, da er aus einem Pamphlet der Nazis stammt, in dem es um den Umgang mit behinderten Menschen im 3. Reich ging. Ihr Engagement auf dieser Homepage zielt auf alle empfundenen und tatsächlichen Überreste einer solchen Abwertung und Aussortierung von Menschen in der heutigen Gesellschaft.
Inzwischen hat die Dokumentation ihrer Briefe und die öffentlichen Reaktionen darauf einen erheblichen Umfang eingenommen. Amanda stellt auch ihre eigene Gesundheitsakte vor, in denen ihr in ärztlichen Gutachten Schwachsinnigkeit und Lebensunfähigkeit diagnostiziert wurde. Ihr größtes Kommunikationsproblem schien neben der Sprachunfähigkeit zu sein, dass sie nicht in der Lage ist, Menschen in die Augen zu sehen. Sie beobachtet Menschen aus dem Augenwinkel, was aber von den Gutachtern nicht erkannt wurde. Erst durch einen Sprachcomputer war Amanda in der Lage, den Außenstehenden zu demonstrieren, wie qualifiziert und pointiert ihre Beobachtungen sind und wie sehr sie eingefahrene Wege durchkreuzt. So ist etwa das in die Augen schauen eine übliche Kontaktaufnahme in der Behandlung autistischer Kinder. Nach Amandas Beschreibung macht ihr dies extrem viel Angst und das Wegsehen hat für sie überhaupt nichts mit Abweisung zu tun.
Da Amanda alle Gedankenkraft für die Formulierung von Sätzen benötigt, sitzt sie lieber in einem Rollstuhl, als selber zu laufen – obwohl sie körperlich problemlos laufen kann. Ihr bisweilen recht exzentrischer Charakter wurde durch den Besuch eines amerikanischen Fernseharztes über den Sender CNN landesweit bekannt, was ihr noch mehr Post beschert hat und sie sehr unter Druck gesetzt hat, denn spontan und schnell antworten kann sie mit ihrer Behinderung und der Kommunikationsmethode nicht.
Dafür
sind ihre Antworten und Stellungnahmen zu behindertenspezifischen Ereignissen
in Amerika sehr persönlich und berührend. Amanda berichtet von Anträgen an das
Gesundheitswesen, in denen sie z.B. flackerfreies Licht statt Neonlicht für
ihre Wohnung beantragt, aber sie nimmt auch Stellung zu Diskriminierungen und
Sterbehilfe bei behinderten Menschen. Für uns UK-Spezialisten bleibt aber ihre
im Film dargestellte These am wichtigsten, warum sie von sprechenden Menschen
als „nicht normal“ kategorisiert wird, nur weil sie nicht in der Lage ist, eine
uns verständliche Sprache sprechen zu können, sondern in ihrer Sprache spricht,
eben „in my language“.
Amanda
stellt selber die Frage, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie vor fünfzig
Jahren ohne technische Hilfen gelebt hätte. Sie ist inzwischen zu einer Spezialistin für Foto- und Videobearbeitung
am PC geworden. In diesem Fall haben Computer und Internet ja sogar eine
doppelte besondere Bedeutung, denn ohne Computer wäre Amanda weiter stumm und
ohne das Internet hätten wir in Europa vermutlich nicht über die
ISAAC-Mailingliste von dieser beeindruckenden autistischen Aktivistin erfahren!
Das
Video ist zu finden bei www.youtube.com
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„In my language“ eingeben
Arvid Spiekermann
9.3.2007